GEISTERTANZ
Theater der Situationen des menschlichen Daseins. Situationen, die jeden Menschen sein ganzes Dasein lang begleiten. Menschliche Situationen. Die er aber deswegen nicht unbedingt zu beherrschen gelernt hat. Wir betrachten eine davon, die Situation an der Klippe. Die menschliche Situation an der Klippe heißt immer, dass eine tief eingreifende Veränderung vor einem steht. Nichts wird danach so sein wie zuvor. Das Unbekannte, in das der Mensch immer wieder schreitet. An der Klippe stehn und nicht wissen, was einen erwartet. Mensch sein.
Eine Situation an der Klippe. Eine alltägliche, und eigentlich ganz harmlose. Die Klippe zum Schlaf. Viele Tausend mal an dieser Klippe gestanden und über sie gegangen, um in die Abgründe des Schlafs zu fallen. Und doch vor jedem neuen Mal nicht wissen, was da mit einem geschieht, was einen dort jenseits der Klippe erwartet.
Man kann es sich einfach machen und sagen, dass man einschläft und dann träumt. So, wie man es Kindern erklären würde. Die alte Geschichte erzählen, von einer der verharmlosendsten Erfindungen unserer Kultur, dem Sandmännchen. Wir glauben aber nicht ans Sandmännchen. Die Klippe zum Schlaf ist eine weitaus großartigere Situation als ein glattes Einschlafen mit darauf folgendem Träumen. Es ist vielmehr eine wertvolle, ja, nahezu gnädige Situation, in der es uns nüchternen Kindern des 20.Jahrhunderts noch vergönnt ist, das Reich der Geister kennen zu lernen, die wir eigentlich längst abgeschafft haben. In der es uns geschieht, dass wir in die weiten, warmen Räume jenseits des Lichts hinabsteigen, in denen mitten in der Moderne noch der Geistertanz stattfindet.
Was aber geschieht hinter dieser Klippe zum Schlaf? Wie tauchen wir in die dunklen Räume des Schlafes ein? Hinter den geschlossenen Augenlidern ist kein Schwarz. Schwarz ist der Raum zwischen den Sternen. Sehen Sie einmal hinein. Hinter unseren geschlossenen Augenlidern geschieht etwas anderes. Da ist nicht die eisige, unerfüllte Kälte des weiten Weltenraums. Es ist eher eng dort und nahe. Und in all dem Brausen, Flimmern und Pulsieren wird etwas vorbereitet, kündigt sich eine Veränderung an. Während wir noch glauben, in eine Ruhe einzutauchen, erfasst uns schon eine neue Bewegung. Dort, hinter unseren geschlossenen Augen und noch viel tiefer in den weitverschlungenen Gängen unseres Kopfes und des Nervensystems unseres ganzen Körpers formieren sich die Geister der Nacht zu ihren Tänzen.
Manchmal sehen wir sie schon kurz bevor wir wirklich eingeschlafen sind. Halbschlafträume. Visionen an der Klippe zum Schlaf. Gute oder böse Geister, oft ist es nicht einmal zu unterscheiden. Manchmal reißen sie uns fort, direkt in den Schlaf hinein. Manchmal erschrecken sie vor unserer plötzlichen Ankunft und werfen uns entsetzt in ein heftiges Aufschrecken aus einem Halbschlaf. Doch meistens halten sie sich abwartend zurück. Sie wollen nicht mit dem Bewusstsein zusammentreffen, das sie in unserer Wirklichkeit seit dem Zeitalter der Aufklärung so unerbittlich ausgerottet hat. Da warten sie lieber noch eine Weile. Denn sie können sich ihrer Sache sicher sein: früher oder später muss uns das Bewusstsein für einige Stunden verlieren und dann gehören wir ihnen ganz allein.
Im Schlaf gehören wir den Geistern der Nacht. Gestaltlose Gesellen, denen wir niemals begegnen. Die wir allenfalls ahnen können. Deren Tänze wir Träume nennen, weil uns nichts besseres einfällt. Weil wir ratlos bleiben, weil wir erkennen, dass wir nichts selbst beigetragen haben zu diesem Geistertanz. Weil wir reglos liegen, willenlos, ausgeliefert. Und sie spielen mit uns. Und wir haben keine Möglichkeit, dieses Spiel mitzugestalten, wie wir dies in unseren Tagträumen tun können und uns vor unserem Schlaf oft wünschen. Dabei meinen es die Geister der Nacht immer gut mit uns. Es ist unsere bewusstseinsbetonte Zeit, die sie verachten muss. Wir müssten es nicht tun. Wir könnten sie durchaus als unsere letzten Freunde betrachten.
Sie tanzen uns ihre mehr oder weniger wilden Tänze und flüstern uns geheime Botschaften ins schlafende Ohr. Großes Geheimnis! Sie singen uns ein Leben vor, das wir versäumen. Spielen uns in wirren Szenen und ungesehenen Verkleidungen einzelne, von uns selbst erlebte Szenen vor und beruhigen unsere Ängste damit, von denen wir vielleicht nicht einmal etwas ahnen. Nur selten werden ihre Tänze so wild, ihre Stimmen so schrill, dass wir schweißgebadet aufwachen, immerhin gewarnt, ernst genommen und aus einer Katastrophe gerüttelt, die so nicht weitergehen darf. Wie gesagt, die Geister der Nacht meinen es ja gut mit uns. Sie sammeln aus unserer tiefsten, verborgensten Erinnerung die schlimmen Erlebnisse, die wir selbst so gerne verdrängen und weben uns Geschichten daraus, damit wir verstehen sollen, wer wir eigentlich sind.
Das eigentliche Problem ist, dass wir in der Wirklichkeit ihre Sprache nicht verstehen und uns die Choreographien ihrer Tänze meist unverständlich erscheinen. Nur im Schlaf verstehen wir manchmal den Geistertanz. Doch nach dem Erwachen, wenn unser Bewusstsein einsetzt mit seinen kausalen Ketten und seiner Vernunft, haben wir den Sinn des Geistertanzes vergessen. Dann denken wir, dass wir einen großen Blödsinn geträumt haben. Selbst wenn wir uns noch genau erinnern, dass wir im Schlaf alles genau verstanden haben, dass uns völlig klar war, was uns da erzählt wurde.
Wir erreichen die Klippe zum Erwachen, treiben an die Oberfläche, und die letzten Pirouetten der Tänzer der Nacht erreichen beinahe das Licht und den Moment, in dem wir die Augen öffnen. Wir wollen noch bleiben und die Tänze noch sehen, die noch angekündigt waren. Wir versuchen, zurückzusinken zu den freundlich bizarren Stimmen, zu den unnennbaren Farben, die unsere Augen nicht kennen. Es ist, wie wenn man uns aus einer Vorstellung holt, durch die schweren Türen des Zuschauerraums nach draußen gerufen, ins Licht und in den Lärm. Drinnen geht ohne uns die Vorstellung weiter, wir ahnen es und sind doch schon fort und in einer anderen Sphäre. Wir vergessen, was drin gesagt wurde, erinnern uns nur an Bruchstücke des ganzen Reigens und müssen fort, in einen schweren Tag.
Manchmal, wenn man uns nach dem Erwachen Zeit lässt, bleibt uns die unnennbare Rätselhaftigkeit der Gesellen der Nacht noch für einige Minuten. Sie haben uns aus unserem zerrissenen Dasein erzählt, von lang vergessenen Personen, die wir einmal liebten, von scheinbar unbedeutenden Gegebenheiten, von unserem Neid, unserer Schuld und unserem Ärger. Sie haben uns aber auch in Gegenden geführt, die wir noch nie gesehen haben, haben uns beschenkt, wie wir nie beschenkt werden und wir erinnern uns matt, dass wir sogar mitgetanzt haben, dass wir leicht waren oder schwer, aber doch von einem Gewicht, das wir nicht kannten. Wir waren wir selbst und doch ganz andere, wir konnten Dinge, die wir eigentlich nicht können und andere, uns normalerweise selbstverständliche Dinge waren uns plötzlich unmöglich. Wir fielen in Abgründe, wir mordeten, wir fanden uns in peinlichen Situationen bloßgestellt, wir waren gute Geschöpfe, wir waren auf einer panischen Flucht und wissen nicht mehr wovor, man hat uns belogen, aufgelauert, und plötzlich durften wir alles, was wir noch nie durften und fanden einen langgesuchten Frieden und nie getroffene Weggefährten.
Wir sitzen schläfrig am Frühstückstisch und haben etwas verloren. Gleich müssen wir los, weiter, gleich beginnt der Tag, der gute, wirkliche Tag, der uns am Leben weiß, inmitten der Welt, an der wir teilhaben. In einer schnellen, rätselhaften Welt, die wir gewohnt sind, die wir mit links erledigen, meisterhaft, kleine Künstler sind wir, Künstler des Alltags, frech, geschwind und pfiffig. Und haben doch um ein weiteres mal den Geistertanz verloren, der es so gut mit uns meint.
Lenny McCloud
Hinterlasse einen Kommentar