WEIHNACHTEN MAL „GANS“ ANDERS
Paul ist fünf. Er kann schon lesen und glaubt nicht mehr so richtig an den Weihnachtsmann. Der Einfluss der Kita-Gang ist massiv. Es ist einfach nicht cool, das mit dem Weihnachtsmann.
Pauls Eltern allerdings wollen so gerne noch einmal ein Weihnachtsfest mit Weihnachtsmann und dieser kindlichen Erwartungsfreude erleben, bevor Paul das nächste Jahr zur Schule kommt und diese letzte Kleinkinder-Bastion endgültig fällt.
Es kommt also darauf an, den bereits in Sachen Weihnachts-mann misstrauisch gewordenen Paul erneut von dessen Existenz zu überzeugen. Paul ist natürlich bereits bestens mit dem Handy seiner Eltern vertraut. Und so hecken sie einen Plan aus.
Am Nachmittag des Heiligen Abend lassen sie sich von Freund Manfred, der in Hamburg wohnt und Weihnachten immer seine Mutter in Pauls Stadt besucht und vorher für Paul den Weihnachtsmann im eigenen Kostüm gibt, eine SMS mit folgendem Wortlaut schicken: „Hi, Paul, bin heute voll gestresst, date mit dir erst in ca. zwei Stunden möglich. Üb noch mal dein geiles Gedicht. LG Der Weihnachtsmann“. Sie zeigen Paul die SMS und der ist ziemlich beeindruckt von dem handymäßig krass orientierten Weihnachtstypen und glaubt nun doch lieber, dass es ihn gibt, Kita-Parolen hin oder her. Außerdem hatten ihm die Kita-Kumpels einen heißen Tipp gegeben: „Zieh einfach kräftig am Bart, der ist nämlich nur mit einem Gummiband befestigt, der gibt dann nach und du weißt, dass es irgendein Bekannter deiner Eltern ist“.
Eine Stunde vor Bescherung klingelt das Handy und Manfred, der Weihnachtsmann, schickt wieder eine SMS, dieses Mal nur für die Eltern: „Stecke im Stau auf der A 24 wegen Schneechaos. Durchkommen ungewiss, Weihnachtsmann muss dieses Jahr ausfallen. Sorry, Manfred. Pauls Eltern sind ratlos. Was tun? Wie Paul erklären, dass der Weihnachtsmann nun doch nicht kommt, obwohl sein Vater immer predigt: Versprechungen und Verabredungen muss man halten und einhalten. Dann hat Pauls Vater einen Einfall. Er erinnert sich, dass am Ende ihrer Straße ein alter Mann mit einem verfilzten, langen Bart in einem fast leer stehenden Abrisshaus lebt. Öfter hat er ihn schon vor dem nahen Supermarkt stehen und um eine Spende bittend gesehen. Den könnte man doch mal fragen. Für ein bisschen Geld tut er es vielleicht. Pauls Mutter ist entsetzt. Einen Bettler am Weihnachtsabend bei ihnen als Weihnachtsmann? Der riecht bestimmt schlecht. Das kann doch nicht wahr sein. Aber Pauls Vater gibt zu bedenken, dass man dann jedenfalls schon mal einen Bart hätte. Und der rote Mantel mit Mütze müsste eigentlich noch in der Faschingskiste vom Vorjahr zu finden sein. Da ging er doch als Feuermelder. Die Zeit drängt und so willigt Pauls Mutter nicht gerade begeistert ein. Pauls Vater macht sich auf den Weg zum Ende der Straße. Er klingelt an einem der drei noch vorhandenen Namensschilder des Abrisshauses. Glücklicherweise öffnet der richtige Mann. Pauls Vater trägt ihm sein Anliegen vor. Zuerst ist der Alte unwillig, doch dann überzeugt ihn das großzügige finanzielle Angebot von Pauls Vater. Schließlich kann er zwei Tage nicht betteln gehen am Supermarkt, da wird’s knapp in seiner Kasse. Also ziehen die beiden los, zurück in Pauls Elternhaus. Schnell wird der neue Weihnachtsmann im Keller eingekleidet, bekommt Eckdaten über Paul und den Sack mit den Geschenken auf den Rücken. In 10 Minuten soll er lautstark klopfen und bescheren.
Und so geschieht es. Paul steht klein und ziemlich beeindruckt vor dem alten Weihnachtsmann. Aber er will sicher gehen. Schnell springt er mutig nach vorn und reißt kräftig an dessen Bart. Ein Schmerzensschrei und ein völlig festgewachsener Bart beseitigen endgültig seine letzten Zweifel. Es gibt ihn doch – diesen Weihnachtstypen. Als die Bescherung zu Ende ist, will der alte Mann verabredungsgemäß das Feld räumen. Viele Kinder warten noch auf ihn, sagt er. Da piepst Paul plötzlich: „Bleib doch noch zum Essen, Weihnachtsmann, die Gans ist doch viel zu groß für Mama, Papa und mich“. Pauls Eltern sehen sich irritiert an. Nach einem Blick in Pauls erwartungsvolles Gesicht stimmt Pauls Vater überrumpelt zu, dass dies ein wirklich guter Gedanke sei und er gern zum Essen bleiben könne. Der alte Mann ist begeistert. Hätte er vor einer Stunde gedacht, dass er heute noch mal Einnahmen haben und nun auch noch zu einem köstlichen Weihnachtsgansschmaus eingeladen würde? Mann, besser kann es doch nicht laufen. Es wird ein ganz anderer Weihnachtsabend als sonst, mit viel Gelächter, deftigen Geschichten und ganz viel Rotwein für die Großen. Und Paul erlebt zum ersten Mal, dass ein Weihnachtsmann zum Essen bleibt und ein voll cooler Typ ist.
Seit diesem Abend gibt es nicht mehr den namenlosen Bettler am Ende der Straße. Der Mann heißt Peter Stahl, hat Pech gehabt im Leben. Man kennt sich nun und wechselt freundliche Worte am Supermarkt, natürlich wandert auch immer eine großzügige Spende in den alten Hut.
Zum nächsten Weihnachtsfest wird es für Paul keinen Weihnachtsmann mehr geben. Dafür wird Paul erfahren, dass ein netter Bekannter zum Gänseessen kommt – er wird Peter Stahl heißen, keinen Bart tragen und am Ende der Straße wohnen.
Angelika Lindenthal
Frau Lindenthal ist Teilnehmerin der „Schreibwerkstatt“, die sich seit vielen Jahren im Gutshaus Lichterfelde trifft und kreatives Schreiben fördert. Vielen Dank das wir diese Geschichte verwenden durften!